(Aus)sterbende Sprache(n)

Das Pumattertitsch / Walserdeutsch der Anna Maria Bacher

Wenn es analog zum Natur- und Artenschutz für bedrohte Tiere und Pflanzen eine Rote Liste für bedrohte Kulturen und Sprachen gäbe, dann müsste das Pumattertitsch, eine Variante des alten Walserdeutschs im Púmatt (deutsch Pomatt, italienisch Val Formazza) im Piemont südlich des Nufenen Passes, ganz weit oben rangieren. Vielleicht ist es auch bereits ausgestorben und wird heute gar nicht mehr gesprochen?!

Die Walser sind eine alemannische Volksgruppe im Alpenraum. Ab dem späten Hochmittelalter besiedelten sie, ausgehend vom Oberwallis, genauer vom Goms im oberen Rhonetal, hauptsächlich die (Hoch)Alpengebiete im schweizerischen Bündnerland, im oberitalienischen Piemont und Aostatal, in Liechtenstein, im österreichischen Vorarlberg und angrenzenden Tirol sowie vereinzelt auch im Berner Oberland, in Savoyen, in Bayern und anderswo. Auf einer Länge von rund 300 km im Alpenbogen verteilen sich heute noch rund 150 sogenannte Walsersiedlungen (Quelle: wikipedia).

Die Nachfahren der Walser sprechen oder sprachen vielerorts Walserdeutsch, einen höchstalemannischen Dialekt. In den von den ursprünglichen Herkunftsgebieten im Wallis „isolierten“ Gebieten bzw. „Sprachinseln“ in Oberitalien hat er sich in seiner alten Form, bzw. je nach Talschaft in verschiedener Ausprägung, bis in unsere Jetztzeit erhalten.

Bei Anna Maria Bacher, geboren 1947 in Gurfulu / Gravella, bis 1992 als Lehrerin in Zumstäg / Ponte arbeitend und heute im Weiler Brendo (walserdeutsch In dä Brendu) lebend, fand dieser alte Dialekt bzw. diese alte Sprache in Form von Gedichten Eingang in die Literatur. Anna Maria Bacher leitet heute das Walsermuseum in der Casa Forte, dem Schteihüüs. Sie spricht / sprach nur ihr Pumattertitsch und Italienisch, aber kein zeitgenössisches Schriftdeutsch.

In ihren Gedichten beschreibt die Dichterin das harte und karge Leben im Hochgebirge mit seinen langen und schneereichen Wintern, Lawinenabgängen und Felsstürzen, Hochwässern der Bäche und Flüsse. Aber auch die Schönheit und Eigentümlichkeit der Landschaft und des Lebens.

1991 hatte ich im Rahmen eines VHS-Kurses in Bern über die Walser, mit abschließender Exkursion einer kleinen Teilnehmergruppe ins Pomatt, nach Z‘Makanà / Macugnaga (am Fuße der Monte Rosa Ostwand) und Lannja / Alagna (südlich des Monte Rosa Massivs) die einmalige Gelegenheit, Anna Maria Bacher in ihrem heimatlichen Púmatt und im Kreis weniger, meist älterer Dorfbewohner, vornehmlich Frauen, in Pumattertitsch Gedichte lesend zu erleben. Ein unvergesslicher Eindruck. Selbst heutige Deutsch-Schweizer verstehen dieses alte Alemannisch kaum.

Im Gespräch äußerten die Frauen des Dorfes, dass sie nur noch zuhause, oft bei Familien- und Ehestreitigkeiten ihren alten walserdeutschen Dialekt sprächen, sonst, draußen außer Haus und im Alltagsleben, meist Italienisch. Die Jungen, die zur Mehrheit abwandern und ihr Tal verlassen, sprächen so gut wie kein Walserdeutsch mehr. Das Pumattertitsch ist somit eine aussterbende oder inzwischen schon ausgestorbene Sprache. Wie andere Walserdeutsche Dialekte auch, z.B. in Macugnaga / Z’Makanà, in Rima und Rimella, zwei Orten in einem nördlichen Seitental des Val d’Aosta, in Lannja / Alagna oder dem wohl bekanntesten Dorf Bosco / Gurín im Maggiatal im Tessin.

Die alte Sprache und Kultur der Walser sind in den genannten Orten heute meist nur noch „museal“ und zunehmend touristisch genutzt erhalten.
Aber, es gibt inzwischen auch viele ernsthafte und studierte Sprach- und Kulturforscher, die den alten Sprachen und Kulturen der Walser wissenschaftlich nachspüren. Und das hat nichts mit Heimattümelei oder reiner Heimatkunde oder gar einem übertriebenen Provinzialismus zu tun. Es ist vielmehr Ausdruck, einen kleinen Teil von „Weltsprache“ zu erhellen.

Aber auch in anderen Teilen der Welt sterben Kulturen und Sprachen aus oder sind es bereits: denken wir nur an das Keltische der Vorrömerzeit in Südwestdeutschland, das nur noch in einzelnen Berg-, Fluss- und Ortsnamen überliefert ist (z.B. Elz, Kandel, Belchen, Zarten), an die vielen indianischen/indigenen Kulturen und Sprachen der teils fast genozidähnlich getöteten Natives oder First Nations in Nordamerika. Auch ihre Sprachen sind oft nur noch in Berg-, Fluss-, Landschafts- und Ortsnamen erhalten (z.B. Quebec, Niagara, Minnesota), um nur wenige zu nennen. Die Rote Liste der Beispiele ist weltweit beliebig verlängerbar.

Eine andere, inzwischen recht bekannte Dichterin, hier noch kurz am Rande erwähnt, ist die franko-kanadische Dichterin Joséphine Bacon, übrigens wie Anna Maria Bacher ebenfalls 1947 geboren, die dem indigenen Volk der Innu angehört und, neben Französisch, in der fast vergessenen Sprache Innu-Aimun, einer Algonkin-Sprache, schreibt.

Aber woher kommt dieser vielfältige weltweite Sprachen- und Kulturenreichtum bzw. diese „babylonische Sprachenverwirrung“, wie es gerne heißt?
Glaubt man dem Alten Testament der Bibel (1. Mose/Genesis, 11,7–9), rührt er daher, dass er eine Strafe Gottes war für die „Selbstüberhebung“ des Menschen in Form des Turmbaus zu Babel, sodass „keiner des andern Sprache verstehe“. Davor sprachen alle Menschen dieselbe Sprache.

Interessanterweise steht dazu in der Apostelgeschichte (2,1–13) des Neuen Testaments ergänzend, dass der Heilige Geist der durch Jesus Christus ermöglichten Gottverbundenheit ein neues Reden und Verstehen über alle Sprachgrenzen hinweg bewirkt. Ein schöner Ansatz für zeitgenössische Dichtung und „Weltliteratur“, wie ich finde, den man auch nichtreligiös unterschreiben könnte.

Das Haus für Poesie bzw. die Plattform Lyrikline.org wäre gut beraten, schnellstmöglich ausgewählte Gedichte von Anna Maria Bacher einzuspielen und zu veröffentlichen, bevor sie ganz verschwinden! Und damit beizutragen, die sprachliche Qualität und Einzigartigkeit dieser Gedichte als Teil einer „Weltliteratur“ zur erhalten und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein wichtiger Beitrag für einen Sprachen- und Kulturschutz im Sinne einer Roten Liste, wie es sie beim Arten- und Naturschutz für die bedrohte Tier- und Pflanzenwelt gibt! Joséphine Bacon jedenfalls wird in Lyrikline.org geführt.
Einen Atlas der gefährdeten Sprachen der UNESCO gibt es ja schon einmal.

Abschließend noch ein Beispielgedicht und weiterführende Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Maria_Bacher

https://www.viceversaliteratur.ch/author/830

https://www.limmatverlag.ch/autoren/autor/357-anna-maria-bacher.html

https://www.minet-tv.com/de/sendungen/minet/minet-das-minderheitenmagazin-072015-vom-091215-rai-sudtirol/die-walser-schriftstellerin-anna-maria-bacher/?edit&language=de

https://archiv.literatur.ch/startseite/archiv/archivdatenbank/anna-maria-bacher-4244-18.html

https://www.lyrikline.org/de/autoren/josephine-bacon

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bedrohter_Sprachen

Mein Weg zur Literatur und zum Schreiben

Wie ich zur Literatur und zum eigenen Schreiben kam?

Ganz einfach: Über die Schule! Ein guter Deutschunterricht und ein guter Deutschlehrer.
Und eine ausgezeichnete Schullektüre in der Oberstufe des Gymnasiums: Lesebuch, Deutsche Literatur der sechziger Jahre, Herausgegeben von Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1968 (Auflage 81.-95. Tausend 1971).
Das Buch versammelte Texte und Textauszüge aus Büchern (Prosa und Gedichte) der damaligen „Avantgarde“ und heutigen „Klassiker“ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Namen wie Aichinger, Artmann, Bachmann, Bayer, Becker, Bichsel, Bieler, Biermann, Bobrowski, Böll, Born, Celan, Delius, Dürrenmatt, Eich, Enzensberger, Fichte, Fried, Frisch, Fuchs, Fühmann, Grass, Handke, Haufs, Heissenbüttel, Hermlin, Hildesheimer, Höllerer, Huchel, Jandl, Jentzsch, Johnson, Karsunke, Kaschnitz, Kluge, Koeppen, Krolow, Kunert, Lenz, Lettau, Lind, Meckel, Mickel, Mon, Novak, Reinig, Richter, Rühmkorf, Schmidt, Schnell, Schnurre, Seghers, Tsakiridis, Törne, Wallraff, Walser und Weiss finden sich darin.
Das Gedicht Kilroy war hier von Yaak Karsunke und der Prosatext Ein Liebesversuch von Alexander Kluge, um nur zwei zu nennen, haben es mir angetan und begleiten (fast verfolgen) mich bis heute.
Ich begann ca. im Jahr 1970, im Alter von 14 Jahren, „literarisch“ zu schreiben, haupsächlich Gedichte, aber von Anfang an nie Gereimtes. Seit 1995, im Alter von 40 Jahren, veröffentliche ich.
Geblieben ist die Liebe zur zeitgenössischen oder Gegenwartsliteratur. Diese Liebe nahm mit besagter Lektüre in der Schule ihren Anfang. Natürlich wurden auch alle „gängigen“ Schullektüren gelesen und fanden Thema im Deutschabitur 1974, z.B. Goethes Faust oder Brechts Guter Mensch von Sezuan.

Willkommen beim B’log von Werner Weimar-Mazur

(c) Foto Werner Weimar-Mazur

Mein erster B’log (1964/1965)

Heimatkundeheft 1
Heimatkundeheft 2